Zwischen Airbag, Gurtstraffer und Helmpflicht

Die erste Neurochirurgie in OWL

Erst Mitte der 70er Jahre wurde die Gurtpflicht in Autos eingeführt und vom Airbag hatte noch niemand die Vorstellung, dass er zur Standardausstattung in Fahrzeugen werden würde. "Damals kamen Opfer von Verkehrsunfällen aus ganz Norddeutschland nach Minden", erinnert sich Dr. Gerd Warnecke an die Anfangszeit als Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie. "Wir waren eine von ganz wenigen Kliniken, die schwere Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen operativ behandeln konnten." 1976 begann Warnecke die Abteilung in Minden aufzubauen. Damals war die Neurochirurgie nur an wenigen Universitätskliniken in Deutschland etabliert. "Man muss sich das noch einmal vorstellen", verdeutlicht PD Dr. Ulrich Knappe, seit 2007 Direktor der Klinik für Neurochirurgie, "nicht einmal die Medizinische Hochschule in Hannover hatte damals eine eigene Abteilung. Am Mindener Klinikum wurde echte Pionierarbeit geleistet."

Das war auch nötig. Parallel entwickelte sich in Deutschland ein immer besseres Rettungswesen mit Notärzten und Rettungswagen an dezentralen Standorten, deren Ausstattung damals, maßgeblich unter Mithilfe von Experten des Mindener Klinikums, entwickelt wurde. "Das führte dazu, dass die Wahrscheinlichkeit des Überlebens für schwerverletzte Unfallopfer steil nach oben ging", berichtet Warnecke. "In der Konsequenz mussten natürlich Patienten mit ganz neuen Verletzungsmustern behandelt werden." Treppenstürze oder die Folgen einer Prügelei - manche Ursachen für schwere Kopf- und Wirbelverletzungen - gibt es durch alle Zeiten und Epochen. Doch in manchen Bereichen gibt es stetige Entwicklungen, wie Neurochirurg Knappe beobachtet hat: "Meine Kollegen und ich sehen immer wieder, wie viel ein gut sitzender Helm bei verunfallten Fahrradfahrern bringen kann oder andersherum wie heftig die Verletzungen bei vergleichbaren Unfällen ohne oder bei schlecht sitzendem Helm sein können. Gerade vor dem Hintergrund der modernen und schnellen E-Bikes ist mir das ein echtes Anliegen, dass sich die Menschen hier besser schützen."

Sein chefärztlicher Vorgänger nickt zustimmend. In Minden finden sich bis heute extrem gute Voraussetzungen für das Fach. "Meines Erachtens lag und liegt das an den vielen anderen Kopffächern und der neurologischen Expertise, die am Universitätsklinikum Minden traditionell gepflegt wird." Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, die Augenheilkunde und nicht zuletzt die Neurologie, Neuroradiologie und die spezialisierte Anästhesie waren und sind Fächer die in ihrer gegenseitigen Ergänzung zu einer breiten und tiefen Versorgung der Patientinnen und Patienten in Minden beitrugen und bis heute beitragen. "Einen muss ich aber noch unbedingt in diesem Zusammenhang erwähnen", wirft Warnecke noch ein. "Professor Hans Nolte, nach dem auch die Adresse des Johannes Wesling Klinikums benannt ist, leitete damals das Institut für Anästhesie. Das, was er und seine Leute damals entwickelt haben, um in der Narkose die Voraussetzungen zu schaffen, dass wir unser neurochirurgisches Spektrum erweitern konnten, das war mutig und auch von einer hohen Fachlichkeit und menschlichen Zugewandtheit geprägt."

Grenzbereich als Grundprinzip
Die Versorgung von Unfallopfern war aber stets nur ein Teil der Klinik für Neurochirurgie in Minden. Dazu kamen die unterschiedlichsten Formen des Schlaganfalls, bei denen Krampfanfälle und Gehirnschwellungen drohten, Aneurysmen, die sich an den Blutgefäßen bilden, auf das Gehirn drücken oder auch platzen können und besonders auch die Chirurgie von Tumoren. "Das ich hier als 150-Jähriger mit Ihnen sprechen kann ist eigentlich ein Wunder", sagt Warnecke mit einem ernst-ironischem Schmunzeln. "Es gibt Eingriffe, besonders an den Gefäßen im Gehirn, da altert man als Operateur binnen Sekunden ein paar Jahre." Kollege Knappe ergänzt: "Wir bewegen uns da regelmäßig in Grenzbereichen, wo eine kleine Unsicherheit oder eine unruhige Hand erheblichste Auswirkungen haben kann. Das geht an uns Neurochirurgen nicht spurlos vorbei." Dabei wirft er einen leicht verschmitzten Blick zu seinem Vorgänger und sagt entschuldigend: "Wenn ich das als 120-Jähriger ergänzen darf." Der Geburtstag der Klinik wurde auch angemessen gefeiert. Für ein Wochenende im Juli waren Experten aus ganz Deutschland und Fachleute der Gesundheitswirtschaft nach Minden gekommen, um gemeinsam zurück und nach vorne zu blicken.

Pioniergeist war nötig
Damit Warnecke und seine entstehende Klinik überhaupt anfangen konnten, war erst einmal Aufbauarbeit angesagt. "Ich bin damals quer durch Europa zu den führenden neurochirurgischen Kliniken gefahren, um abzugucken. Zwar hatte ich natürlich aus meiner Oldenburger Zeit eine Vorstellung davon, was wir als Ausstattung benötigten, da es in Minden aber so gut wie nichts für das Fachgebiet gab, hatte ich auf meinen Reisen einen Fotoapparat dabei und habe alles festgehalten und nachher gesagt, das brauchen wir." Manchmal traf er in dieser Zeit auch auf völliges Unverständnis. Dass ein leistungsfähiges Mikroskop nötig war, um feinste Gewebestrukturen erkennen und zuordnen zu können, war nicht jedem Chirurgenkollegen und Einkäufer auf den ersten Blick plausibel. "Außerdem begann damals auch ein Richtungsstreit", erklärt PD Knappe. "Die Wirbelsäule operierten Orthopäden und Neurochirurgen. Letztere wurden anfangs angefeindet, wenn Sie eine mikrochirurgische Bandscheibenoperation vornahmen." "Das stimmt", weiß Warnecke. "Durch unsere Mikrochirurgie war es aber möglich, von den Nerven her zu denken. Was die Wirbelsäulenstatik betraf haben wir als ganzes Fach dazulernen müssen, was uns letztendlich zu den tollen Operationsergebnissen geführt hat, die wir heute erleben dürfen."

Die Entwicklung ist in den vergangenen Jahren rasant weitergegangen. Unter Warneckes Nachfolger wurde die Chirurgie von Tumoren und hier insbesondere die Chirurgie von Tumoren der Hirnanhangdrüse ausgebaut. Auch die Operation am offenen Schädel bei Wachpatienten hat sich zuletzt stark entwickelt. "Auch dank der modernen Verfahren unseres Institutes für Anästhesie können wir bei bestimmten Operationen mit den Patientinnen und Patienten sprechen und so Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Gehirns ziehen. Das ist, wenn es um den Erhalt von sprachlichen Fähigkeiten geht, enorm wichtig."

In der Neurochirugie geht es oft ums Ganze, um Leben und Tod oder um die Frage von bleibender Behinderung. Ein Spannungsfeld, das den Medizinern und den Patienten viel abverlangt. "Man darf die Patienten nicht anlügen", beteuert Warnecke. "Ich habe meine Aufgabe stets darin gesehen, Hoffnung zu machen, aber keine falsche Hoffnung zu verbreiten." Das Kollegengespräch neigt sich dem Ende zu. Direktor Knappe hört andächtig zu als sein Vorgänger noch einmal grundsätzlich wird. "All das geht nur mit viel Herzblut. Aber wenn man das mitbringt, ist die Neurochirurgie ein unglaublich faszinierendes Fach. Aus meiner heutigen Perspektive als Ruheständler würde ich mich sofort wieder für diesen Teil der Medizin entscheiden."

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