Wenn aus dem Bein ein Kiefer wird

Vier Operateure modellieren einem Patienten ein Gesicht

Privatdozent Dr. Dr. Martin Scheer, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Minden operiert am Kiefer des Patienten.

Es klingt nach Science-Fiction: Ärzte des Universitätsklinikums Minden modellieren aus einem Wadenbein einen neuen Unterkiefer. Acht Stunden dauert diese Operation, an der vier Ärzte in zwei Operationsteams zeitgleich beteiligt sind. Die Patienten können durch diese besondere Operation wieder am normalen Leben teilnehmen.

„Ich konnte nicht mehr kauen, hatte ständig Schmerzen und hatte im Mund die entzündeten, offenen Knochen des verbliebenen Kiefers. Es war furchtbar. Jetzt geht es mir wieder gut, ich habe keine Schmerzen und hoffe, dass ich bald auch wieder Zähne zum Kauen habe“, sagt ein Patient aus Hameln, der sich vor drei Wochen dieser besonderen Operation unterzogen hat. „Die OP-Methode ist eine Chance, um Menschen ohne Kieferknochen wieder ein normales Leben zu ermöglichen, welches sie sonst nicht mehr haben können“, sagt Privatdozent Dr. Dr. Martin Scheer, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie am Johannes Wesling Klinikum Minden. Bei der Operation werden große Stücke des Wadenbeins mit begleitenden Gefäßen entnommen, um daraus passgenau einen Teil des Unterkiefers zu formen. „Die Operation benötigt eine intensive Vorplanung. In Webmeetings werden mit einer Spezialfirma anhand hochauflösender CT-Daten des Unterkiefers und des Wadenbeines exakte Modelle sowie Bohr- und Sägeschablonen sowie eine stabilisierende Titanplatte für den Unterkiefer gefertigt“, berichtet Privatdozent Martin Scheer, der einen Doktortitel in Humanmedizin und einen in Zahnmedizin besitzt. Neben dem eigentlichen Knochen werden auch Muskulatur, Haut und Gefäße aus dem Bein entnommen und in den Kieferbereich transplantiert. Damit wird der neue Kieferknochen mit Blut versorgt. „Ein Knochen ist lebendes Gewebe, welches mit Nährstoffen und Sauerstoff aus dem Blut versorgt werden muss. Daher benötigen wir die begleitenden Gefäße“, erklärt Scheer. Der Patient profitiert gleich von mehreren Vorteilen: Der transplantierte Knochen heilt gut ein, ist belastbarer und entzündet sich sehr viel seltener als künstliche Materialien. „Im Ergebnis können die Patienten häufig wieder ein normales Leben führen, was ohne Kieferknochen oder Osteosyntheseplatten als Kieferersatz häufig nicht der Fall ist“, erklärt Privatdozent Dr. Dr. Scheer. Und die Patienten bestätigen diese Einschätzung. „Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt, seitdem ich meinen Kiefer verloren habe“, sagt der Patient, der vor drei Wochen operiert worden ist.

Gründe, warum jemand keinen Kiefer hat, gibt es reichlich. Die häufigsten Ursachen sind bösartige Tumore der Mundhöhle, die entfernt werden müssen, und chronische Knochenentzündungen. Weitere Gründe sind Unfälle, angeborene Fehlbildungen oder Kriegsverletzungen. „Ein fehlender Kiefer bringt enorme Einschränkungen für den Betroffenen mit sich“, berichtet Scheer. Meistens verlieren die Patienten die Kaufähigkeit. Das heißt, dass sie nur Astronautennahrung zu sich nehmen können. In besonders schlimmen Fällen ist sogar eine Ernährung über eine Magensonde notwendig. Auch optisch ist der Verlust des Kiefers für die meisten Menschen eine traumatische Erfahrung. Das Gesicht ist oftmals stark verformt. Irritierte Blicke sind für die Betroffenen noch das kleinere Problem, offene Ausgrenzung oder Anfeindungen das größere. Auch diese für die Betroffenen sehr grausame Erfahrung kann durch die moderne OP-Methode minimiert werden. „Mit einem modellierten Kieferknochen aus dem Wadenbein können die Patienten am normalen Leben teilnehmen. Nach der OP ist nur eine kleine Operationsnarbe am Hals und am seitlichen Unterschenkel sichtbar. Mit Zahnimplantaten oder einem gut angepassten Gebiss ist auch das Kauen fast ohne Einschränkungen möglich“, erklärt der Mindener Mediziner. Durch den Einsatz der CAD/CAM-gefertigten Sägeschablonen wird zudem die Operationszeit verkürzt und die Passgenauigkeit erhöht. 

Die Operationsmethode ist allerdings nicht für jeden Patienten geeignet. Die körperliche Konstitution für eine achtstündige Operation muss ebenso vorhanden sein wie eine entsprechende Blutversorgung des Beins. „Wenn die Gefäße im Bein nicht ausreichend stark sind, riskieren wir eine unzureichende Durchblutung des Fußes. All das muss im Vorfeld mittels einer CT-Angiografie untersucht und abgeklärt werden“, sagt Scheer.

Grundsätzlich kann jeder gesunde Mensch auch ohne Teile des Wadenbeins gut leben. Das eigentliche Gewicht liegt auf dem parallel verlaufenden Schienbein. „Das Wadenbein verleiht uns etwas mehr Stabilität.“ Dass der Patient aus Hameln mit einer Krücke zur Nachuntersuchung kommt, lässt Dr. Scheer dann aber doch aufhorchen. Doch der Patient beruhigt: „Ich habe mir das Knie verdreht – auf der anderen Seite. Dem Wadenbein geht es gut – dem verbliebenen Teil im Bein und dem im Kiefer.“

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